Fiktives und Reales gehen ineinander über, wenn die Ich-Erzählerin – auf dem Weg zu einem Interview, das in Küsnacht stattfinden soll – an ihr Leben zurückdenkt. Wie Jutta Speidel wird ihre Heldin am ersten Frühlingstag des Jahres 1954 geboren. Auf dem Nachttisch ihrer Mutter steht eine leuchtend rote Amaryllis, die dem Buch den Namen gibt. In chronologischer Abfolge werden Lebensstationen des Mädchens vom Bodensee erzählt, aus ihrer Kindheit, aus den Phasen ihres Erwachsenwerdens, über die Begegnung mit der großen Liebe ihres Lebens und über ihren damit verbundenen Weg in die Manege als weiblicher Clown. Das ist reich an Details, an unterhaltsamen Erlebnissen und an ernsthaften Reflexionen. Die Menschen auf ihrem Weg werden mit sehr viel Liebe und Warmherzigkeit gezeichnet.
Valerie muss sich entscheiden, ob sie sich als Frau in der Manege entfalten will und kann oder sich doch in den Hintergrund zurückzieht, Szenen konzipiert und Regie führt.
Die Gliederung nach bestimmten Altersabschnitten wird besonders die älteren Leserinnen des Romans herausfordern, das Geschilderte mit dem eigenen Leben zu vergleichen, darüber nachzudenken, was sie selbst im gleichen Alter erlebt und empfunden haben. Wie war das mit der Entdeckung der Welt im Alter vor vier Jahren, welche Sehnsüchte weckte ein Wanderzirkus, welche Erinnerungen sind von den ersten Flirts, der ersten großen Liebe geblieben.
Wenn Jutta Speidel über den harten Ausbildungsalltag spricht, über Unsicherheiten und Lampenfieber, auch über Verzicht, ist sie ihrer unkonventionellen Heldin sicherlich sehr nahe.
Valerie schafft es bis in die große Manege, erlebt ihren größten Triumpf. Es passt zum Leben eines Clowns, dass dies auch ein Moment bitterster Traurigkeit wird. Ein Roman, der lesenswert ist, unterhält und auch sehr nachdenklich macht. rvSpeidel, Jutta: Amaryllis. Langen Müller Verlag, 2024.