Die russische Seele, die Helden des Vaterländischen Krieges, die Aktivisten des kommunistischen Aufbaus, Perestroika und Romantik, Melancholie, schonungslose Brutalität im Alltag – all das begegnet uns in diesem Buch, dass die Geschichte von Anja und Milka erzählt, engsten Freundinnen, die vor allem zwischen ihrem 14. und 17. Lebensjahr sich selbst und die Welt um sich herum entdecken.
Dabei bewegen sie sich zwischen Komsomolversammlungen, Ferienfahrten, Partys, Sex und Alkohol. Sie suchen ihren Platz, ihren Weg in die Zukunft in einer Gesellschaft, die taumelnd ihrem Untergang entgegengeht, in der die Werte zusammenbrechen.
Immer in gesellschaftlichen Umbrüchen gibt es eine „verlorene Generation“, Kristina Gorcheva-Newberry erzählt von ihrer. In dem am Rande von Moskau spielenden Roman wird die große Politik gebrochen durch Diskussionen am Familientisch und im Freundeskreis der jungen Leute, einer engen, intimen Gemeinschaft, die jäh auseinanderbricht. In den Nachrichten ist von Breshnew, Andropow, Tschernenko und Gorbatschow die Rede, in ihren Gedanken geht es um Lermontow und Freddy Mercury, Bulgakow und Queen, um Hamlet und immer wieder um Anton Tschechow und seinen Kirschgarten.
Die spannende Handlung wird umrahmt von der russischen Heimat, den Birkenwäldern, dem Duft der Osterkuchen, der Apfelplantage und den Erinnerungen der Alten. Dinge, die man auch dann mitnimmt, wenn man sein Land verlässt. Im zweiten Teil des Romans blickt die Ich-Erzählerin, die ebenso wie die Autorin in den USA lebt, auf die Entwicklung in Russland bis zum Jahr 2022 und kann so auch die Aggressionspolitik unter Putin in die familiäre Diskussion einbeziehen und bewerten, aus einem ganz persönlichen Blickwinkel, der wiederum den Bogen zu den Idealen und Erfahrungen der Jugendzeit spannt.
Man kann diesen Roman als Erleben einer Jugend in einem zerfallenden Staat lesen. Für diejenigen, die die Sowjetunion vor 1990 näher kannten, vermittelt er zudem einen sehr klaren, schonungslosen Blick auf die Realität jener Gesellschaft, die den Kommunismus einst auf ihre Fahnen geschrieben hatte. rvGorcheva-Newberry, K.: Das Leben vor uns. Unionsverlag, 2022. (Taschenbuch). Die Schreibweise der Namen entspricht der deutschen Übersetzung von Claudia Wenner.