Es zweifelt wohl niemand mehr daran, dass die 1944 in Jalta zwischen der Sowjetunion, den USA und Großbritannien festgelegte Weltordnung zerfallen ist. Über die Haltung der USA, die Rolle Chinas und die Herausforderungen für Europa wird viel gesprochen und geschrieben. Aber wie sieht es mit den Perspektiven Russlands aus? Eine Beendigung des Krieges gegen die Ukraine rückt näher. Wie wird sich die Gesellschaft in Russland entwickeln, mit oder in einer Ära nach Putin?
Jens Siegert nimmt sich in seinem Buch „Wohin treibt Russland“ dieses Themas an. Siegert ist kein Kreml-Astrologe, der aus der Ferne in eine Glaskugel schaut. Er lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Russland, zunächst als Radiokorrespondent. Ab 1999 baute er das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung auf, dass er bis 2015 leitete. Es kennt das Land, dessen Menschen und Geschichte, davon kündet sein 2018 erschienenes Sachbuch „111 Gründe, Russland zu lieben“. Und auf der Grundlage seiner Beobachtungen und Kontakte – er ist mit einer Russin verheiratet – und seiner langjährigen Erfahrungen mit der Zivilgesellschaft, die maßgeblich durch die Bewegung Memorial beeinflusst wurde, analysiert er, wie die russischen Menschen Demokratie durch die Jahrhunderte, vom Zarenreich über die Sowjetunion bis zum heutigen Russland erlebt haben.
Was verstehen sie darunter? Welche Erfahrungen haben sie vor allem nach dem Ende der Sowjetunion gemacht? Wollen die Russen überhaupt eine Demokratie? Was erwarten die jungen Menschen von der Zukunft?
Siegert entwickelt Szenarien, die von unterschiedlichem Grad an Zuversicht geprägt sind. Sie erstrecken sich von einer erneuten Annäherung an den Westen über eine Fortsetzung der Diktatur bis hin zum Chaos. Er ist sich sicher, dass Russland nicht verschwinden wird, dass Deutschland Wege finden muss, mit dem Nachbarn im Osten umzugehen. Der Politikwissenschaftler und Journalist stützt seinen vorsichtigen Optimismus darauf, dass es in Russland viele Menschen gibt, die sich für ein freies, demokratisches und friedliches Land einsetzen. Der Autor wendet sich mit seinem Buch nicht nur an ein Fachpublikum, sondern bietet eine Basis für eine weitergehende und vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage „Was kommt nach Putin?“ rvSiegert, J.: Wohin treibt Russland? Hirzel Verlag, 2024.