Claras langer Weg ins Glück

Cover: Verlag

Die Großstädter ziehen aufs Land heutzutage, „Die Uckermark“, so der Titel eines Romans von Birgit von Heintze „ist ausverkauft.“

Vor 100 Jahren war das anders. Simona Wernicke erzählt in „Lindenblütenzeit“ von der fast 21-jährigen Clara Korte aus dem Dörfchen Kranzig im Brandenburgischen, die es mit aller Macht nach Berlin zieht. Sie will weg aus der ärmlichen Kate mit Kühen und Schweine, dem Ausmisten der Ställe und dem Melken. Die nahe Großstadt Berlin lockt, sie will die glitzernde Welt erleben und auch die große Liebe finden.

In Berlin lernt sie die harte Arbeit in der Meierei Bolle kennen, verdient sich ihr eigenes Geld in einem Lebensmittelladen nahe der Markthalle IX in der Eisenbahnstraße, die noch heute existiert, entdeckt die Elektrische und das Haus Vaterland und lernt im „Alten Eierhäuschen“ in Treptow ihren Otto kennen. Sie heiratet, bekommt Kindern und hilft in seinem Friseurgeschäft. Aus der Sicht der jungen Familie werden die Weltwirtschaftskrise, die Kämpfe zwischen Kommunisten und Faschisten, die Wahl Adolf Hitlers und die Erwartungen der Menschen an ihn ebenso miterlebt wie die kleinen Vergnügen des Alltags, die Freude am eigenen Gärtchen, die Ausflüge. Deutschland bereitet sich auf den Krieg vor, führt ihn, verliert ihn. All das erleben die Menschen um Clara und Otto und die beiden mit ihren Kinder selbst: Lebensmittelrationierung, Einberufungen und Todesmeldungen, Bombenangriffe und Vergewaltigungen. Und doch finden sie die Kraft, sich im Leben zu behaupten, weiterzumachen. Die 1962 geborene Autorin hat über 30 Jahre als Chefsekretärin und Redaktionsassistentin bei Berliner Zeitungen gearbeitet. Es gelingt ihr auf den mehr als 500 Seiten des Romans, die Leser ganz dicht an das Geschehen heranzuführen, sie nehmen teil am Alltagsleben der Hauptpersonen, als ob sie mit im Raum sitzen, im Laden anstehen oder in „Hempels Kuhle“ baden gehen. Durch viele Details, die Schlaufen am Kleid, die Beschreibung eines Treppengeländers, eines Lippenstifts oder des Haarwaschpulvers von Schwarzkopf wird eine Zeit lebendig, wie sie vielen deutschen Familien zur eigenen Geschichte gehört und bewahrt wird. Und wie das Leben selbst, ist der Roman mal heiter und unbeschwert, mal düster und traurig, aber ohne Fatalismus und Verzweiflung und lässt Clara mit 45 Jahren ihr Glück finden. rv

Wernicke, S.: Lindenblütenzeit. Gmeiner Verlag, 2025.

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