Wir leben schon langenicht mehr in der Realität

Cover: Verlag

Manche Satiriker klagen, dass ihnen die Texte ausgehen. So skurril, wie heutzutage auf der realen politischen Bühne agiert wird, lässt sich das gar nicht erfinden. Jede noch so überzogene Darstellung wird von der Wirklichkeit übertroffen. Gleichzeitig ist diese Wirklichkeit so erschütternd, so gefährlich und so voller Leid, dass sich die Frage stellt: Darf die Satire heute wirklich noch alles, so wie es Tucholsky behauptet hatte? Ist Lachen noch erlaubt, wenn scharf geschossen wird?

Philippe Claudel wagt sich an diese Herausforderung. Aus dem aktuellen Zusammenspiel von diktatorischen Machthabern, dem Einfluss der Internet-Mogule und der Kriege nicht nur in der Ukraine entwirft er ein Szenarium, bei dem der Leser nicht mehr sicher ist, ob er einen Roman oder Nachrichten in der Tageszeitung liest.

Elon Musk bietet eine Milliarde Dollar demjenigen, der den russischen Präsidenten Wladimir Putin tötet. Dieser Mord geschieht im Roman tatsächlich, wenn auch vordergründig nicht des Geldes wegen. Wie verändert sich danach die Gesellschaft? Wird aus der Ukraine ein Eldorado oder plötzlich aus dem Gazastreifen eine Riviera? Und was wird aus solchen Menschen wie Musk und Trump?

Hinter der immer mehr ins Absurde gleitenden bitteren Satire stehen ernsthafte Fragen, denn es ist nicht fiktiv, dass die USA-Regierung beispielsweise auf den venezolanischen Präsidenten Maduro ein Kopfgeld von 50 Millionen Dollar ausgesetzt hat. Darf sich eine Demokratie des Terrors auch bedienen? Und wenn ja, welche Alternative entwickelt sich daraus? Werden dadurch die Probleme gelöst? Wird die Gesellschaft besser?

Dem Buch ist ein Zitat des ungarischen Philosophen Istvan Mészáros vorangestellt: „Wir leben schon lang nicht mehr in der Realität: Wir leben nur in einer Geschichte, die den Anschein des Wirklichen angenommen hat...“ Die Übergänge erscheinen in „Wanted“ fließend.

Philippe Claudel (*1962) ist ein französischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmemacher. Er studierte moderne Literatur, Geschichte der Kunst und Kino. Wer sich an die Lektüre dieser „dystrophischen Fabel“ heranwagt, die sich durchaus lohnt, darf keine leichte, gar humoristische Kost erwartet. Am besten vielleicht, man liest das Buch mit anderen, denn es fordert die Diskussion heraus. rv

Claudel, Philippe: Wanted. Müry Salzmann, 2025.

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