Klassiker zur Weihnacht
Was kann und sollte man sich zum erstenoder auch zum zehnten Male anschauen?

Der Titel des Weihnachtsfilmklassikers schlechthin soll an dieser Stelle nicht genannt werden. Die 1973 in der Tschechoslowakei nach berühmter Grimmscher Vorlage verfilmte Geschichte um die verwaiste Tochter eines Gutsbesitzers, die es dank Magie und höherer Gerechtigkeit bis zur Prinzessin bringt, findet auch ohne Empfehlung Jahr für Jahr im Advent ihr dankbares Publikum.Sprechen wir also lieber über einen anderen Weihnachtsklassiker, der zwar nicht für das deutsche Fernsehen gedreht wurde, aber dort seit Jahren zur Weihnachtszeit tapfer die Stellung hält. Frank Gould hat 1980 „Der Kleine Lord“ nach dem 1886 erschienenen Roman von Frances Hodgson Burnett für das britische Fernsehen verfilmt. Es war keineswegs die erste und auch nicht die letzte Adaption dieser Geschichte über einen kleinen Jungen aus prekären Verhältnissen, der als Spross einer Adelsfamilie identifiziert wird, das Herz seines mürrischen Großvaters erobert und den Menschenfeind zum Menschenfreund macht. Niemanden wundert es, dass dieser an Charles Dickens erinnernde Plot zum Weihnachtsfest passt. Es gab fünf Filmfassungen vor Gould und einige danach.

Aber warum ist es ausgerechnet Goulds Version, die beim Publikum so zieht? Den Reiz von Goulds Werk macht nicht nur die gelungene Balance von Sentimentalität und Realismus aus, es punktet auch mit seinen Darstellern. Wen entzückt nicht der Anblick des damals erst zehnjährigen Amerikaners Ricky Schroder mit Stupsnase und makellosem Goldhaar? Und wer wollte die Darstellung des 1959 tatsächlich geadelten Sir Alec Guinness als Earl of Dorincourt bezweifeln? Guinness‘ feiner Charakterzeichnung ist es zu verdanken, dass der Wandel vom Misanthropen zum herzensguten Großvater glaubwürdig wird. Außerdem ist in dieser Fassung auch der Weihnachtsbaum der prächtigste unter allen Kleinen-Lord-Verfilmungen.

Apropos Weihnachtsbaum: Einen solchen wird man beim Disney-Klassiker „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ schwerlich finden. Doch das meist im Sommeridyll spielende Märchen hat nicht nur den Schnee im Titel, sondern auch alle Ingredienzen, die perfekte Familienunterhaltung zum Fest der Liebe braucht: eine pfiffige Prinzessin, die mit Charme und perfekter Singstimme verzaubert, sieben als drollige Charakterstudien aufgebaute Zwerge, schmissige Songs, schaurigen Grusel und ein Happy End, bei dem nicht nur Zwergentränen kullern dürften. Last but not least ist der schon 1937 von David D. Hand inszenierte Trickfilm die Blaupause aller nach ihm kommenden Animationswerke. Wer wissen will, was vor knapp 90 Jahren zeichentricktechnisch schon möglich war, schaut sich den Klassiker auf „Disney+“ an. Zum Vergleich gibt’s dort auch die zu Unrecht geschmähte, feministisch aufgepeppte Realfilmversion aus dem Jahr 2025.Knapp zehn Jahre nach der Walt-Disney-Company trat mit Frank Capra ein anderer Meisterregisseur auf den Feiertagsplan. Er drehte mit „Ist das Leben nicht schön?“ (Original: It’s a Wonderful Life) einen explizit an Heiligabend spielenden Film. „Ist das Leben nicht schön“ vereint Realismus und Fantastik, Komik und Tragik mit so leichter Hand, dass man sich auch 80 Jahre nach der ersten Veröffentlichung die Augen reibt.

Der begnadete Jedermann-Darsteller James Stewart gibt den leitenden Bankmitarbeiter George Bailey, dem ausgerechnet zu Heiligabend 8000 dringend benötigte Dollar abhandenkommen. Den an diesem Tag ehedem von Missgeschicken und Ungemach geplagten Bailey treibt es nach diesem Schlag fast in den Selbstmord. Nichts kommt Bailey sinnloser vor als sein unauffälliges Dasein. Doch ein vom Himmel gesandter Engel zeigt ihm, wie die Welt ohne ihn und einiger seiner Handlungen aussähe: wie der reinste Horror nämlich. Das ist mit reichlich US-Optimismus auf Zelluloid gebannt die Weihnachtsbotschaft up to date: Jedes Leben hat einen Sinn und verdient Liebe und Anerkennung. Wenn der Klassiker wieder zu den Festtagen läuft, heißt es: einschalten! Schon der Running Gag mit der ständig abbrechenden Treppendekoration rechtfertigt das. Ganz zu schweigen von der Botschaft, dass sich Gutes doch auszahlt.

Da wir gerade reinsten Horror erwähnen: Die merkwürdige Verwandtschaft von Horror und Weihnachten haben Kino und Fernsehen schon lange erkannt. Der Horror ist der dunkle Spiegel von Weihnachten. Warum spielen Filme wie der John McTiernan-Actioner „Stirb langsam“ (1988) mit Bruce Willis, „Tödliche Weihnachten“ von Renny Harlin (1996) und „Gremlins – Kleine Monster“ (1984) von Joe Dante alle zu den Feiertagen? Die geheimnisvolle Verbindung von Weihnacht und Schrecken hat Hollywood-Wunderkind und Sonderling Tim Burton in seinem Stop-Motion-Musical „Nightmare before Christmas“ (1993) ausführlich behandelt. Faszinierender und schaurig-schöner finde ich sein „Sleepy Hollow“ von 1999 mit einem jugendfrischen, schrill-komischen Johnny Depp. Die Ende des 18. Jahrhunderts in einer amerikanischen Siedlung spielende Schauermär hat die Erzählung „Die Legende von Sleepy Hollow“ von Washington Irving aufgenommen und fantastisch-doppelsinnig zu einem Erzählteppich mit zahlreichen Nebenhandlungen und noch mehr Psychoanalyse ausgebreitet. Der deutsche Untertitel „Köpfe werden rollen“ ist wörtlich zu nehmen, doch spätestens nach der dritten Attacke des kopflosen Reiters hält man sich nicht mehr die Augen zu, sondern bricht in schallendes Gelächter aus. Die aufwendig und hervorragend inszenierte Geschichte verbreitet nicht nur wohlige Schauer, sondern verknüpft auch Gruselmär und klassischen Whodunnit-Krimi. Nicht zuletzt ist die Botschaft, dass das Böse sich in seinen eigenen Fallstricken verheddert, während das Gute den Lohn in sich selbst trägt, nicht der schlechteste Weihnachtsgruß, den Netflix zu bieten hat. Kein Wunder, erreichen die drei Hauptfiguren des Films zum Schluss glücklich ein verschneites New York, rechtzeitig zum Fest der Liebe. Rüdiger Braun

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