Wer liest heutzutage noch Gedichte? Da sind die mehr oder weniger mühsam gereimten Lobpreisungen bei Hochzeiten, Geburtstagen, Jubiläen. Zu Ostern oder zum Jahresende werden der Osterspaziergang oder Weihnachtsgedichte herausgekramt. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die nach 1945 viel gesungenen Agitprop-Lieder. Aber dazwischen? Dabei dienen doch gerade Gedichte dazu, innezuhalten, zu reflektieren, über sich selbst und die Welt nachzudenken, zu provozieren, zu entschleunigen.
Es gibt eine Reihe von Autoren aus der DDR, die sich genau diesem Anspruch gestellt haben und die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Zu ihnen gehört der Lyriker, Hörspiel- und Kinderbuchautor und Übersetzer Rainer Kirsch (1934 – 2015). Zu seinem 90. Geburtstag hat der Eulenspiegel Verlag einen Sammelband mit 100 Gedichten herausgegeben. Sie reflektieren persönliche, auch sexuelle Befindlichkeiten, konkrete politische Ereignisse wie den Putsch in Chile und die großen Fragen der Menschheit. Sie sind intim und manchmal ganz offen provozierend. Beim Blättern und Lesen kommt man ins Nachdenken, und der etwas ältere Leser schaut mitunter auf die überwiegend beigefügten Jahreszahlen, um seine eigenen Haltungen und sein eigenes Leben in den Zeitpunkt der Entstehung der Gedichte einzuordnen. So denkt der Dichter schon 1962 darüber nach, was die Enkel vierzig Jahre spät von seinen Zeilen halten werden, welche Fragen sie an seine Verse stellen, und er weiß: „Glück ist schwer in diesem Land“.
Kirsch verstand sich als Vertreter der von Georg Maurer geprägten Sächsischen Dichterschule, zu der seine zeitweilige Ehefrau Sarah Kirsch, Karl Mickel und Volker Braun zu rechnen sind. Der vielseitige Autor, der seine Studien in Jena und Leipzig nicht beenden durfte und 1973 aus der SED ausgeschlossen wurde, war 1990 der letzte Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR.
Wie war das doch mit dem „Lied der Prinzessin“, dem „Zug der Geschichte“, der „Kunst in Mark Brandenburg“ und dem Notar, der sich ein Sonett wünscht? Es lohnt sich, diesen kleinen Band zur Hand zu nehmen. Nur etwas Zeit muss man einplanen. Denn wie schrieb Rainer Kirsch? „Gedichte sind Spiegel der Seele.“ rvKirsch, R.: Hundert Gedichte. Eulenspiegel Verlag, 2024.