Die
stille Zeit
Was die Abwesenheit von
Geräuschen mit uns macht –
gerade zu Weihnachten

Foto: Adobe Stock/Samir
Fast kein Laut dringt ans Trommelfell, nur das kaum vernehmbare Knistern der Schneeflocken, die sanft vom Himmel fallen. In der Natur ist nichts so still wie eine frisch verschneite Landschaft. Die große Oberfläche der Schneekristalle und die Lufteinschlüsse zwischen ihnen wirken wie ein Schalldämpfer. Eine frische Schneedecke kann bis zu 90 Prozent des Umgebungsschalls absorbieren. Übrigens gilt das nur für Naturschnee, der aus filigranen sechseckigen Kristallen besteht. Kunstschnee dagegen wird aus runden Eiskügelchen gebildet und lagert sich dichter, ohne schalldämpfende Wirkung – zumal die Schneekanonen an den Pisten der Wintersportgebiete für eine dauerhafte Lärmkulisse sorgen. Aber zurück in den heimischen Winterwald: Setzt dort Schneegestöber ein, wird dichter, steigt auch die Lautstärke der fallenden Flocken. Zehn Dezibel oder mehr können dann erreicht werden, so der Deutsche Wetterdienst. Das ist etwa so laut wie normale Atemgeräusche.

Die Umgebung, in der wir uns aufhalten, ist aber meist viel lauter. In der Stadt sorgen Autos, Straßenbahnen und Baumaschinen für eine dauerhafte Geräuschkulisse. In Geschäften und Restaurants läuft oft Musik als Hintergrundbeschallung. Laut ist es auch im Großraumbüro oder in der Fabrik. Drei von vier Deutschen fühlen sich durch Lärm belastet, vor allem durch Verkehrslärm. Dauerhafter Krach kann Schwerhörigkeit auslösen. Fast drei Viertel der Jugendlichen sind Studien zufolge vor allem durch Musikkonsum per Kopfhörer einem Schallpegel ausgesetzt, der bei ihnen frühzeitig ein Hörgerät notwendig machen könnte. Lärm führt aber auch zu Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und begünstigt die Entwicklung von Depressionen.

Stille ist daher eine Verlockung für uns. Eine „Stille Nacht“, wie es im Weihnachtslied heißt, kann Entspannung bedeuten. Stille kann aber auch bedrohlich wirken. Wenn es um uns herum still ist, dann heißt das oft, dass wir allein sind. Es bedeutet Gefahr, isoliert und einsam zu sein. Stille kann uns beunruhigen – vielleicht gerade, weil sie eine Abweichung von der lauten Normalität ist. Das Gehör ist unser Alarmgeber. In Vorzeiten waren die Menschen vielen Gefahren ausgesetzt, jeder ungewohnte Laut konnte eine Bedrohung bedeuten. Alltagsgeräusche dagegen wurden ausgeblendet. Das hilft uns heute, Lärm zu ertragen. Wer an einer lauten Straße wohnt, nimmt das Hintergrundrauschen des Autoverkehrs gar nicht mehr bewusst wahr. Würde es dagegen ausbleiben, etwa wegen einer Straßensperrung, würden die Bewohner das als beunruhigend empfinden.

Im Kloster oder beim Yoga gibt es Übungen, um sich an die Stille zu gewöhnen. In den Regeln des Benediktinerordens ist ein ganzes Kapitel dem Schweigen gewidmet, betitelt mit dem lateinischen Wort Silentium für Ruhe. Für Großstadtmenschen werden auch Schweigeseminare im Kloster oder Yoga-Zentrum angeboten. Drei, vier Tage oder eine Woche Schweigen wird von vielen als Wohltat empfunden. Die Ruhe dient dazu, zu sich selbst oder zu Gott zu finden. Das ist nicht für jeden das Richtige. Aber vielleicht bieten die ruhigen Tage nach dem Weihnachtsfest die Möglichkeit, etwas Stille zu genießen. Vielleicht mit einem Spaziergang im Winterwald. Dort kann es auch dann ruhig sein, wenn kein frisch gefallener Schnee liegt. Ulrich Nettelstroth
Druckansicht