Bereits seit Einführung des Angebotes am 1. November nahmen einige Betroffene die diskrete Hilfe in Anspruch. Das erklärt Jacqueline Braun vom Kreiskrankenhaus Prignitz auf Nachfrage der MAZ. „Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Ich möchte nicht wissen, was da alles an menschlich Undenkbarem stattfindet“, meint Braun. Die Gewalt mache auch vor dem flachen Land nicht halt. Das merke man im Krankenhausbetrieb besonders, da zu ihnen die betroffenen Personen kämen.
Der Chefarzt der Fachabteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Georgi Marinov, hat sich zuvor mit dem Thema beschäftigt. Er war der Initiator dafür, das Projekt in die Perleberger Klinik zu tragen. Nach seinen Schätzungen wird die Zahl der von sexueller Gewalt betroffenen Personen, die im Krankenhaus Hilfe anfordern, künftig auf zwei bis drei Personen im Monat steigen. Dass es bereits Menschen gab, die sich anonym behandeln ließen, sei ein Erfolg, so Braun.
„Es ist schwierig, wenn Gewalt im häuslichen Bereich vorkommt. Dann zu sagen, ich gehe jetzt ins Krankenhaus, scheint für viele unmöglich“, erklärt Jacqueline Braun. „Die Kollegen berichten, dass Gewalt häufig nebenbei als Zufallsbefund festgestellt wird.“ Denn zuerst würden sich Betroffene wegen Magen-Darm oder anderen Geschichten melden und offenbaren sich den Ärzten erst in diesem neuen geschützten Bereich der anonymen Spurensicherung.
Wenn die Betroffenen ins Krankenhaus kommen, müssen sie – sofern sie es nicht möchten – ihr konkretes Anliegen nicht nennen. Stattdessen können sie einen Codesatz sagen: „Ich möchte dringend mit einem Gynäkologen/Urologen sprechen.“ Die Mitarbeiter wissen dann genau, was das Anliegen der betroffenen Person ist und dass sie eine diskrete Behandlung wünscht. Um diskret auf Fälle häuslicher Gewalt aufmerksam zu machen, gibt es ein Handzeichen. Auch darauf weist Jacqueline Braun hin. Hierzu wird der Daumen auf die Handfläche gelegt und im Anschluss die Hand zur Faust geballt. Damit solle signalisiert werden, dass die entsprechende Person Hilfe benötigt.
„Gewalt findet oft im häuslichen Bereich statt. Die Menschen, die zu uns kommen, sind noch geschockt und wissen nicht, wie sie weiterhin handeln sollen. Die anonyme Spurensicherung gibt ihnen die Möglichkeit, Beweise in der Hand zu haben ohne gezwungen zu sein, ihren Fall direkt zur Anzeige zu bringen“, erklärt Braun den Hintergrund. Viele würden nämlich vor allem aus Angst vor der Anzeige ihrer Gewalterfahrung eine Sicherung der Spuren ablehnen. Die Hemmschwelle, gegen den eigenen Partner vorzugehen, sei ohnehin besonders hoch. Das Brandenburgische Landesinstitut für Rechtsmedizin speichert die Daten der Spurensicherung für zehn Jahre. Den Betroffenen steht frei, ob sie diese Zeit für eine Anzeige bei der Polizei nutzen. In Perleberg führten die bisher gesicherten Spuren jeweils zur Anzeige des Täters.
Gewalt erfahren nicht nur Frauen. Schon früh wurden deshalb in Perleberg, neben den Gynäkologen, auch Urologen und Chirurgen mit ins Projekt einbezogen. Männer hätten sich bisher auch schon an das Krankenhaus gewendet. „Es gibt definitiv Fälle, in denen Männer von Frauen geschlagen werden“, so Braun. „Deshalb haben wir auch unsere Chirurgen mit ins Boot geholt.“
Das nächste Angebot vom Kliniknetzwerk „Medizinische Soforthilfe und vertrauliche Spurensicherung nach Vergewaltigung“ außerhalb der Prignitz befinde sich in Neuruppin, so Braun. Insgesamt gibt es dafür bisher elf Anlaufstellen in Brandenburg. Laut Kriminalstatistik gab es im Jahr 2022 im Land Brandenburg 270 gemeldete Vergewaltigungen. WS/Julia Westermann