„Theater ist Familie“
Wie Jugendliche in Wittenberge die Bühne für sich entdecken

Wittenberge. „Bei uns gibt es kein Falsch oder Richtig“, sagt Emily, 16, und lacht. „Jede Idee wird gehört, und oft entsteht daraus etwas Neues.“ Sie gehört zum „Tauglichen Amateurtheater“ – einer Gruppe Jugendlicher, die sich jede Woche im Kinder- und Jugendkulturzentrum Wittenberge trifft, um zu proben, zu spielen und zu wachsen. Geleitet wird das Ensemble von Heike Zohm, Sozialarbeiterin beim SOS-Kinderdorf Prignitz. Seit zwölf Jahren bringt sie junge Menschen auf die Bühne.

„Theater ist Familie“, sagt Heike Zohm. „Wir bauen unser Stück gemeinsam – wie ein Haus.“ Seit 2013 inszeniert die Pädagogin jährlich eine Produktion mit Jugendlichen aus der Region. Die aktuelle Gruppe ist zwischen 15 und 17 Jahre alt, einige sind schon seit der sechsten Klasse dabei. Zuletzt haben sie eine Dystopie auf die Bühne des Elbehofs in Wahrenberg gebracht: „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury. Gerade dieses Stück über Zensur, Angst und Freiheit hat die Gruppe stark beschäftigt. „Am Anfang war ich noch nicht überzeugt, aber am Ende fand ich es richtig cool“, erzählt Nimue, die vier Jahre in der Gruppe mitgespielt hat. „Wir haben Texte verglichen und dann abgestimmt, was uns mehr reizt.“

Auch die Spielleiterin lässt sich auf solche Prozesse ein: „Ich muss Lust auf ein Stück haben, aber die Jugendlichen auch. Und wenn sie mich mit einem Stoff überzeugen, umso besser.“ Heike Zohm beschreibt Theater als „Lernraum fürs Leben“. Beim Lesen, Sprechen, Ausprobieren gehe es nicht nur um Werke, sondern um Situationen, Bilder und Beziehungen. „Wir wissen nie genau, was Autoren wie Friedrich Schiller oder Ray Bradbury wirklich gemeint haben. Wir machen etwas Eigenes daraus.“

Die Komödie „Bildung für Rita“ von Willy Russel, das Gegenwartsstück „Diebe“ von Dea Loher oder „Woyzeck“ von Georg Büchner – jedes Stück ist Anlass, über Menschen, Macht oder Moral zu sprechen. So wird aus der Figur des Hauptmanns in „Woyzeck“ etwa eine Managerin. „Die Managerin war einfach meine Rolle – Handlung, Text, alles hat gepasst“, sagt Emily.

Auch Ella, 15, hat in mehreren Inszenierungen mitgespielt – zuletzt als Mildred Montag, der Frau des Hauptcharakters Guy Montag in „Fahrenheit 451“. „Ich wollte früher Schauspielerin werden“, sagt sie. „Theaterspielen macht nach wie vor viel Spaß. Ich habe gelernt, dass man Dinge aus vielen Perspektiven sehen kann.“ Neben dem Spielen gehört noch mehr zur Ensemble-Arbeit: Bühnenbild, Kostüme, Licht, Probenwochenenden auf dem Elbehof in Wahrenberg. Obwohl sie schon voll im Berufsleben stehen, sorgen die beiden ehemaligen Spieler Ben Grell und Mirko Samoray bei den Inszenierungen für professionelle Technik und Sounddesign. „Vor der Premiere sind wir oft mehrere Tage dort, schlafen auf Matratzen, kochen zusammen und arbeiten manchmal bis spät abends“, erzählt Heike Zohm.

Auch Lampenfieber gehört dazu. „Backstage ist es schlimmer als auf der Bühne“, findet Ella. „Wenn man dann durch den Vorhang geht, ist man plötzlich jemand anderes.“ Und wenn ein Text mal vergessen wird? Emily grinst: „Dann improvisieren wir. Das Publikum merkt das nicht. Durch das Theater bin ich mutiger geworden – und kreativer“. Und Nimue, die inzwischen umgezogen ist und an ihrer neuen Schule weiterhin Theater spielt, ist sich sicher: „Jeder sollte das mal probieren. Man lernt so viel über sich und findet Freunde fürs Leben.“ Sie war einer der beiden Woyzecks in der gleichnamigen Inszenierung.

Auch der 17-jährige Mika hat viel mitgenommen: „Ich habe Guy Montag gespielt, die Hauptrolle in ‚Fahrenheit 451‘. Es war neu für mich, fast die ganze Zeit auf der Bühne zu stehen. Ich bin daran gewachsen.“ Heike Zohm sieht in diesen Entwicklungen ihren größten Erfolg: „Die jungen Menschen sind klug, mutig und kreativ. Durch sie bin auch ich als Pädagogin gewachsen.“ Wie es weitergeht, ist noch offen. Die Stücke „Kabale und Liebe“, „Die Räuber“ und „Der Besuch der alten Dame“ stehen zur Wahl. Sicher ist nur: Es wird wieder ein Stück, in dem junge Menschen über sich hinauswachsen – Szene für Szene. Stephanie Drees



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